Frau Löhrmann gegen den Rest der Welt
04.05.2010
wissen.de
Von den Grünen hängt bei der NRW-Wahl fast alles ab. Und damit auch von Sylvia Löhrmann, einer Frau, die kaum jemand kennt. Das allerdings stört sie gar nicht.
Am Ende muss der Frosch herhalten. Die heimliche Mächtige sitzt auf dem Rücksitz in ihrem Opel-Kombi und redet. Über Gott und die Welt, über Rüttgers und die Linkspartei. Über das Zehn-Punkte-Programm der Linken, nach dem sie nun doch regieren wollen, über Ablenkungsmanöver und strategische Ansätze.
Dann scheint alles klar: Die Grünen werden notfalls also lieber mit der CDU koalieren. Doch Sylvia Löhrmann lacht nur und drückt den Gummifrosch, der im Haltegriff über der Autotür klemmt. "Das ist eben die 1000-Dollar-Frage", sagt sie, und der Frosch quietscht.
Für andere ist es mehr als das, eine Eine-Million-Dollar-Frage, mindestens. In Berlin rätseln sie seit Monaten, was die Grünen in NRW machen, wenn es für das rot-grüne Wunschbündnis nicht reicht. Und was nicht alles von der Landtagswahl abhängen soll: die Zukunft der Bundesregierung, der Steuersenkungen, der Atomkraftwerke, der Kopfpauschale.
Seit vergangener Woche hängt auch die Griechenland-Hilfe offiziell von der NRW-Wahl ab. Löhrmanns Parteikollege Jürgen Trittin ließ sich in Berlin von IWF-Direktor Dominique Strauss-Kahn bestätigen, dass die Bundesregierung zu lange zögerte. Aus Angst vor der NRW-Wahl, vermutlich.
Sylvia Löhrmann kennt diese Probleme, aber sie macht sie sich nicht zu eigen. Die Spitzenkandidatin und Fraktionschefin der Grünen an Rhein und Ruhr sitzt im Auto, das sie durchs Land bringt, und sagt: "Ich bin auch wegen der Schulpolitik mit Leib und Seele Landespolitikerin. Und mein Herz schlägt für NRW! Was soll ich da in Berlin?"
Seit Wochen ist sie unterwegs, mal mit Unterstützung von Spitzenpolitikern, meistens ist sie allein mit dem Fahrer und "Rudi", ihrem Sprecher. Bildung und Energie sind die großen Landesthemen. Die Grünen wollen Kohlekraftwerke verhindern. Bei der Schulpolitik hat die ehemalige Gesamtschullehrerin in Ministerpräsident Jürgen Rüttgers den härtesten Widersacher. Der CDU-Politiker ist großer Verfechter des dreigliedrigen Schulsystems.
Rheinspaziergang mit Rüttgers gegen Clement
Es gab Zeiten, da ging Sylvia Löhrmann mit Jürgen Rüttgers demonstrativ am Rhein spazieren. Das war, als Wolfgang Clement seinen grünen Koalitionspartner in Düsseldorf provozierte, indem er ständig mit Jürgen Möllemann Rolltreppe fuhr.
Heute ruft "die Sigrid" an, sie sitzt in Paderborn am Schreibtisch und bastelt an einer Pressemitteilung gegen Rüttgers. Sigrid Beer ist die bildungspolitische Sprecherin der NRW-Grünen, und sie hat ein Problem: Der Philologenverband hat eine Umfrage in Auftrag gegeben, das Ergebnis: 76 Prozent sagen Nein zu einer einheitlichen Schule. Sylvia Löhrmann murmelt etwas von "ideologischen Schützengräben", am Ende textet Beer: "Rüttgers und der Philologenverband haben Angst vor den Eltern vor Ort."
Löhrmann kämpft für eine regionale Gemeinschaftsschule, bei der die Schulen vor Ort entscheiden, ob sie alle Abschlüsse anbieten. "Angesichts sinkender Schülerzahlen sind gerade auf dem Land viele Kommunen, auch CDU-Bürgermeister, angetan von der Idee", sagt Löhrmann. Zehn Prozent der Schulen will sie pro Jahr für diesen Prozess gewinnen. Auch Gewerkschaften und Unternehmerkreise stünden hinter dem Konzept.
Für ihre Überzeugung muss die 53-Jährige hart schuften. "Ich bin ein Arbeitstier", sagt sie. Die Termine machten Spaß, aber die Taktung sei schon enorm. Nach einem Termin in Solingen holt sie sich im Reformhaus ein Brötchen. Solingen ist ihr Wahlkreis, doch ein Star ist sie auch hier nicht. Das Brötchen ist "was Ökologisches, so was Rotes" ist drauf. Manchmal isst sie auch Fleisch. "Ich bin kein dogmatischer Typ", sagt sie. Dann krümelt sie den Rücksitz voll.
Löhrmann fürchtet die Große Koalition eher als Verhandlungen mit der CDU und der Linkspartei: "Wer die Auseinandersetzung scheut, hat doch Angst vor seiner eigenen Meinung." Doch auch wenn es für Rot-Grün nicht reichen wird und die CDU anklopft, wird sie erst mit der SPD reden. Schließlich stünden wichtige Inhalte auf dem Spiel. In der Rolle der Königsmacherin sieht sie sich nicht: "Regieren um jeden Preis kommt nicht infrage." Und auch wenn das Verhältnis zur SPD besser ist als zu Clements Zeiten, bleibt Löhrmann auf Distanz: SPD-Spitzenkandidatin Hannelore Kraft und sie siezen sich.
Ihre großen Skeptiker trifft sie bei einem Termin in Bonn beim "Tag der Wirtschaft". Der Bundesverband mittelständische Wirtschaft (BVMW) hat in das "World Conference Center" eingeladen. Früher tagte hier der Bundestag. In der Ecke des Plenarsaals lehnt eine Deutschlandfahne. Links und rechts vom Rednerpult stehen Stellwände mit Sponsorennamen.
"Kein Heimspiel" im Mittelstand
Die Gäste fahren in schwarzen VIP-Bussen vor. Sylvia Löhrmanns Opel parkt unten am Rhein neben den Autos der Spaziergänger. Im Vorraum des Konferenzzentrums laufen Mittelständler herum, Geschäftsführer, geschäftsführende Gesellschafter und deren Söhne. Die Männer tragen Anzüge, die wenigen Frauen sind jünger und tragen meistens nur Tabletts mit Getränken.
"Es ist kein Heimspiel", sagt Löhrmann. Sie ist andere Feiern gewohnt. Beim Sommerempfang der Grünen-Fraktion spielte einmal ihr Lebensgefährte Reiner Daams auf der Akustikgitarre. Mit ihm wohnt die gebürtige Essenerin im Norden Solingens an der Bundesstraße 224.
Vor der Podiumsdiskussion in Bonn muss Sylvia Löhrmann in den VIP-Raum, Parkettboden, schwarze Ledersofas, Fensterfront mit Blick auf den Rhein. Löhrmann sitzt gegenüber von Landesforschungsminister Andreas Pinkwart (FDP), neben ihr Andreas Krautscheid, Generalsekretär der CDU und einst Mitglied der schwarz-grünen Pizza-Connection. Sie suchen nach Gesprächsthemen, reden über die Mikrofonlautstärke beim TV-Auftritt am Montag.
Dann kommt Mario Ohoven hinein. Er ist Präsident des BVMW, Mann von Charity-Königin Ute und Vater von VIP-Girlie Tochter Chiara. Mario Ohoven greift nach den Händen im Raum und nach zwei Stück Kuchen. Sylvia Löhrmann kommt so schnell gar nicht aus dem Sofa hoch. Ohoven stellt sich mit Pinkwart an die Fensterfront, Löhrmann geht raus und redet mit ihrem Sprecher.
Im Plenarsaal redet Motivationsredner Hermann Scherer über "Interesse und Aufmerksamkeit". Sein Vortrag heißt: Jenseits vom Mittelmaß - Spielregeln für die Poleposition in den Märkten von morgen. Er sagt Sätze wie: "Wir sind zu Studenten des Misserfolgs geworden." Dann erzählt er von einer Übung, die sie für die Uni gemacht haben: Ein Kassierer lässt hinter dem Tresen einen Stift fallen, er bückt sich, ein anderer kommt hoch, und 80 Prozent der Testpersonen merken es nicht.
Nach ihm kommt Sylvia Löhrmann ins Plenum. Sie hält einen fünfminütigen Vortrag über Schul- und Energiepolitik. "Wir haben einen zu schlechten Output bei der Bildung", sagt sie. Und sie wirbt für energetische Gebäudesanierung, die Kosten senke und Arbeitsplätze schaffe. Am Ende korrigiert sie den Moderator: "Ich bin nicht nur Fraktionsvorsitzende, sondern auch Spitzenkandidatin." Erst jetzt hat sie Interesse und Aufmerksamkeit der Zuhörer geweckt.
Am Abend halten die Europäischen Grünen nebenan einen Vortrag: Die Rolle der EU bei internationalen Klimaverhandlungen. Löhrmann ist da schon auf dem Weg nach Köln. Es gibt Wichtigeres.
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